Über die Ästhetik ein Dorf zu gestalten

Wenn wir von Florenz als schöner Stadt sprechen, meinen wir in der Regel nicht die Neubau-viertel der vergangenen 50 Jahre, sondern ausschließlich das Zentrum der Stadt mit der Piazza della Signoria. Wer Barcelona als die schönste Stadt am Meer nennt, denkt an die prächtigen Boulevards, den Ramblas, und nicht an die Erweiterung der Stadt, die im Rahmen der Olympiade 1992 angelegt wurde. Und wenn wir von Paris schwärmen, haben wir das Paris Haussmanns vor Augen und nicht das ab 1963 entstandene Viertel LaDefense.

Warum scheinen uns Europas alte Städte schöner als alles zu sein, was Planer und Architekten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg an Neuem entwickelt haben? Sind Städte heute noch planbar? Oder beruht der desolate Zustand der neu geplanten Zentren mit ihren traurig tristen Straßen und Neubauten, denen jede Anmutung und Aufenthaltsqualität fehlt, einfach nur auf einem fatalen Unwissen von Fachleute und Verantwortlichen zurück zu führen?

Wenn wir heute aber durch die von Planern angepriesenen neuen Stadtviertel unserer Zeit hinter den Bahnhöfen von Stuttgart, Zürich oder Frankfurt am Main gehen, die glauben, ihre Urbanität und Zukunftsfähigkeit schon mit dem Namen „Europaviertel“ nachweisen zu können, fröstelt es uns angesichts der abstoßenden Kälte und Langeweile, die uns in den ungefassten Stadträumen entgegenschlägt.

Vergleicht man diese Modernität mit der der Vormodernen, also mehr als hundert Jahre alten Stadtzentren, hat jedes einzelne Haus dort eine Qualität, an die die heutigen Neubauten nicht heranreichen.

Ist es richtig, dass der alte Stadtraum mit seinen geordneten öffentlichen Plätzen und Straßen prinzipiell eine höhere Lebensqualität hat, als alles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten errichtet haben? Oder stimmt das vielleicht gar nicht und man ist einfach nur ewiggestrig, wenn man es wagt, das Nichtvorhandensein des öffentlichen Raumes und städtebaulicher Qualität in unserer Gemeinde anzumahnen?

Bildet das Alte mit dem Neuen eine harmonische Einheit am Sittenser Marktplatz? Eine stadträumlich völlig ungelöste Anbindung eines neu gestalteten Marktplatzes an das eigentliche Zentrum, der Bahnhofstrasse? Der städtische Raum bleibt damit unbeholfen zerstückelt. Das Alte bildet mit dem Neuen keine harmonische Einheit. Der Ort bildet keine einheitliche Adresse und kann kaum Identität für uns Bewohner stiften.

Wenn wir über „schön“ und „hässlich“, „gut“ und „schlecht“ sprechen, so muss vorausge-schickt werden: Die Ethik in der Architektur und im Städtebau, also die normative Vorstellung von einer guten und richtigen Architektur, einer Architektur, die auf Gewohnheiten und Bräuchen beruht, haben wir spätestens mit der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgegeben. Zuvor galt über weite Perioden der europäischen Architekturgeschichte, dass ein Gebäude nur gut sein konnte, wenn es auch schön war. Festigkeit, Nützlichkeit und Schönheit waren in dieser Zeit die grundlegenden Maßstäbe für die Bewertung von Architektur und sie mussten alle drei gleichermaßen erfüllt sein.

Darauf verzichten wir heute, wenn es darum geht, unsere Städte zu planen, weil wir meinen, die sinnliche Wahrnehmung von Schönheit oder Harmonie sei eine derart subjektive und rein individuelle Empfindung, dass wir sie besser ignorieren und erst recht nicht verallgemeinern sollten.

Einen wissenschaftlichen Beleg für die Allgemeingültigkeit für die Schönheit von Orten lieferte schon 2016 das Kölner Institut für Handelsforschung in ihrer bundesweiten Untersuchung zu vitalen Innenstädten. Dabei lässt sich das Ergebnis in Bezug auf Sittensen auf drei Punkte zusammenfassen:

  • Ambiente und Flair einer Stadt haben den größten Einfluss auf die Bewertung.
  • Wichtigster Einzelaspekt für das Ambiente und Flair sind die Gebäude der Innenstadt. Den zweiten Rang belegen Plätze und Grünflächen.
  • Alle Top-Platzierten der jeweiligen Ortsgrößenklassen verfügen über einen historischen Stadtkern. Der Pflege und Vermarktung eines historischen Stadtkerns sollte somit eine maximale Bedeutung beigemessen werden.

Die Zerstörung der Schönheit der Stadt ist auch das Ergebnis unserer aufwändigen und bürokratischen Stadtplanungspolitik. Heute planen die Hauptverantwortlichen zumeist aneinander und am Ziel vorbei.

Einer der erfolgreichen Stars unter den europäischen Stadtplanern ist der Niederländer Dr. Hans Horn, der sich unlängst, nach dem Besuch der Lübecker Altstadt, so äußerte: „Es gibt wenige Städte, die so schön sind. Dieses Geschenk muss gehegt und gepflegt werden. Aus dem individuellen Profil lassen sich einzigartige Konzepte entwickeln, die als authentisch wahrgenommen werden. Zur Umsetzung derartiger Konzepte sind effiziente administrative und politische Strukturen erforderlich. Benötigt wird ein Regisseur, ein Stadtbaumeister, ein Bürgermeister. Ganz wesentlich sind auch entsprechende Vision. In den Niederlanden werden solche Visionen alle 5 Jahre auf der Basis einer Stärken-/Schwächenanalyse einer Stadt gemeinsam mit den Bürgern entwickelt.“

Mit Rückwärtsgewandtheit hat es wenig zu tun, wenn heute wieder versucht wird, lebenswerte Stadtquartiere zu entwerfen. Der derzeit landesweit zu beobachtende Wiederaufbau von alten Häusern und Quartieren scheint eine Art Hilfeschrei einer Gesellschaft zu sein, die von Planern und Architekten andere Qualitäten erwartet, als das, was sie in den vergangenen Jahrzehnten angeboten haben.

Der öffentliche Raum unseres Heimatortes ist der Gemeinschaftsbesitz aller Sittenser schlechthin. Ein Ortszentrum oder Marktplatz, ist eine der größten Errungenschaften der alten europäischen Stadt. Hier traf man sich, um Ideen, Meinungen und Informationen auszutauschen. Dieser Aufenthaltsraum kann von jedem Bürger genutzt werden, unabhängig von seiner Herkunft, Position und sozialem Status.

Anders als der private Wohnraum des Hauses, in dem wir die Wandfarbe, den Teppich, das Parkett und den Sessel sorgfältig auswählen, um uns wohlzufühlen, bleibt die Gestaltung der Straßen und Plätze in unseren Stadtplanungsämtern ungeplant. Sie wird der Willkür und dem Unwissen eines privatwirtschaftlich orientierten Planungsbüros überlassen. Der öffentliche Raum ist, wie schon der Architekt und Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt 1920 sagte, als erweiterter Wohnraum zu sehen.

Die von Städtebauern wie Josef Stübben in Köln, Theodor Fischer in München oder Fritz Schumacher in Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffenen Quartiere stehen beispielhaft für gelungene Stadträume, in denen sich die Bewohner noch heute, nach über hundert Jahren, wohlfühlen und die zu den begehrtesten Wohnlagen in Deutschland gehören.

Wenn wir davon ausgehen, dass der Städtebau in Deutschland ausschließlich gesamt-gesellschaftlichen Bedürfnissen zu dienen hat und uns gleichzeitig vergegenwärtigen, dass die auf dem Immobilienmarkt begehrtesten Stadtgebiete nicht etwa unsere heutigen Neubau-viertel sind, sondern vor mehr als hundert Jahren realisierte Stadtentwürfe, so wird deutlich, dass der öffentliche Raum eine architektonisch-städtebauliche Dimension hat, die es in unseren Stadtplanungsämtern wieder aktiv zu bearbeiten gilt, um der Schönheit der Stadt und damit einem in den vergangenen Jahren offensichtlich gewordenen Mangel entgegenzutreten.

Wenn in diesem Zusammenhang von Schönheit die Rede ist, so geht es in erster Linie um das, was wir in seinem Nichtvorhandensein als Hauptmangel der heutigen Stadtplanung ausmachen: um den architektonisch gefassten, gut proportionierten öffentlichen Raum, den Raum der Straße, der Gasse, der Allee, des städtischen Parks oder den von Häusern umstandenen Marktplatz.

Überträgt man diese allgemeinen Erkenntnisse auf Sittensen und vor allem auf die Umgestaltung des Sittenser Marktplatzes, wird deutlich was dort passieren muss:

Keines der alten Gebäude darf entfernt werden. Eine Gestaltungssatzung muss vorgeben wie dort zukünftig das Erscheinungsbild unseres Dorfes aussehen soll. Der Marktplatz muss wieder Treffpunkt der Sittenser werden. Der Marktplatz muss Anziehungspunkt für Gäste und Touristen werden. Der Marktplatz soll der Ort für Kultur, Gastronomie und Tourismus sein. Es muss zwingend eine harmonische Verbindung zum wirtschaftlichen Zentrum (Bahnhofstrasse) geschaffen werden.

Darin sehen wir die vornehmlichen Aufgaben der Politik. Weil das nicht einfach ist, wollen wir Bürger Verantwortung übernehmen und wollen uns an diesem Prozess beteiligen.

Kommentare sind geschlossen.